Wasser | Wind | Wellen

Komische Vögel

Sie sind früh unterwegs, deshalb sieht man sie nicht. Sie sind leise, deshalb hört man sie nicht. Vogelbeobachter sind seltsame Menschen mit einem faszinierenden Hobby.
Die großen Konzerte gehen erst Ende April los, wenn alle Zugvögel wieder da sind.
Dafür sind Bäume und Büsche jetzt noch kahl wie eine Männerglatze und das Gewusel der Vögel für alle sichtbar.

Der Wecker brummt leise. Bloß niemanden aufwecken. Frau und Kinder wollen schlafen. Es ist Sonntag 5.30 Uhr. Kurz vor der Morgendämmerung. Der Mann ist hellwach, nicht eine Sekunde hat er daran gedacht, sich noch einmal umzudrehen. Rein in die Klamotten, alte Jeans, Kappe aus verblichenem braunen Cord, Parka-ähnliche Jacke mit großen Taschen, in denen allerlei Dinge Platz finden, Bestimmungsbuch, Aufnahmegerät, Schokoriegel. Dann ein schnelles Frühstück, er wird lange unterwegs sein.
Der Mann schlüpft in die Thermogummistiefel und hängt sich sein Fernglas um den Hals, ein Steiner Rocky 12×28. Eine eher ungewöhnliche Vergrößerung, man braucht eine ruhige Hand, erkennt dann umso mehr Details. Erst kürzlich hat er bei eBay nach einem Spektiv geschaut, einem professionellen Beobachtungsfernrohr mit Stativ. Damit käme er noch näher ran. Näher ran an seine große Leidenschaft, die Vögel. Philip Winter ist ein Birdwatcher.

Birdwatcher, der: Gattungsbegriff, der alle jemals einen Vogel beobachtenden Wesen umfasst. Folgende Unterarten kommen vor:

Birder, der: meist männliches, unauffälliges, in tarnfarbene und geräuschminimierende Stoffe gekleidetes Wesen. Auffällige Kennzeichen: baumelndes Fernglas vor der Brust. Unterunterart:

Twitcher oder Spotter, der: Ein Verrückter, meist englischer Nation, der alles stehen und liegen lässt und meilenweit reist, um einen Blick auf einen seltenen Vogel zu erhaschen. Infolgedessen sollen haufenweise Ehen zerbrochen sein.

Ornithologe, der: Wissenschaftler und alle, die sich als solche verstehen, weil sie anhand von Gesang oder Lautäußerungen, Verhalten, Größe, Gestalt, Färbung des Gefieders Vögel bestimmen können. Für alle Arten gilt: Fehlbestimmungen gelten als peinliche, unverzeihliche Blamage.

Am Horizont werden die Alpen von der aufgehenden Sonne in milchiges Licht getaucht. In den Tälern des sanft-hügeligen Voralpenlandes wabern letzte Nebelschwaden. Es ist 6.30 Uhr, Mitte März. Ein Postkarten- Kitsch-Idyll liegt vor Philips Augen, als er das Örtchen Dießen am Ammersee durchquert. Die Welt scheint noch zu schlafen. Er steuert einen Schotterparkplatz am südlichen Rand des Ammersees an, hier beginnt ein Vogelschutzgebiet, ein Hotspot in der Szene. Kein weiteres Auto auf dem Parkplatz. Gut so. Er ist der Erste.

Die Vogelfreistätte Ammersee Südufer ist ein kleines Eldorado für Birdwatcher. Hier brüten zahlreiche gefährdete und vom Aussterben bedrohte Vogelarten. Mehr als 300 davon findet, wer nur gründlich sucht, in Feucht- und Streuwiesen, Flussschlingen und Schlickflächen, Kiesinseln und Moorflächen, Schilf und Röhricht sowie in den dauersumpfigen Wäldern. Geschätzte 10.000 Wasservögel kommen jährlich aus dem Norden zum Überwintern an den See, der vor 15.000 Jahren durch das Abschmelzen der eiszeitlichen Gletscher hervorgegangen ist. Neben den Wintergästen und Brutvögeln gibt es jede Menge sogenannte Durchzügler an Bayerns drittgrößtem See.

6.45 Uhr. Der Boden des Trampelpfades entlang der Ammer ist noch gefroren, Atemwolken vor der Nase, die Sonne bemüht sich. Die Welt hier ist voller Vogelstimmen. Der Lautstärke nach müssen es Hunderttausende sein, zu sehen ist keiner. Zumindest nicht für das ungeübte Auge. Wer je mit einem Vogelbeobachter unterwegs war, weiß: Die sehen und hören Dinge, die für normale Menschen nicht sicht- und hörbar sind. Sie sind auf Herabstürzendes, Aufsteigendes, Gleitendes, Pickendes und Raschelndes abonniert. Sie identifizieren Melodien aus Stimmenwirrwarr. Können Pracht-, Mauser- und Schlichtkleid unterscheiden.

Da, das typische Meisenläuten. Dort das abschwellende Trillern mit einem Nachklang, das sind die Buchfinken. Und hier eindeutig eine Tannenmeise, dieser etwas gequetschte, genuschelte Ton. Oder da, das Geschnackel der Wacholderdrossel. Der laute Kleiber mit seinem durchdringenden Pfeifton. Der Buntspecht klopft, singt dafür aber nicht. Das schwerfällige Flügelrauschen des Graureihers in den Lüften. Der winzig kleine Zaunkönig mit seiner schönen Mischung aus Zwitschern, Trillern und Pfeifen. Dazwischen immer wieder die genervte Amsel. Und oh, da hinten, das könnte der erste Zilpzalp sein.

Die großen Konzerte gehen erst Ende April los, wenn alle Zugvögel wieder da sind, Singdrossel, Mönchsgrasmücke, Laubsänger, Fitis, Schwarzkehlchen und Sommergoldhähnchen. Dafür sind Bäume und Büsche jetzt noch kahl wie eine Männerglatze und das Gewusel der Vögel für alle sichtbar. Wenn man viel Glück hat, kann man jetzt schon einen Kiebitz beobachten, wie er mit akrobatischen, nahezu waghalsigen Flugmanövern seine sexuelle Attraktivität erhöhen will. Es ist eine andere, eine wilde, laute Welt, die da über unseren Köpfen lebt.

Rund 10.000 Vogelarten gibt es weltweit. Meist singen und protzen nur die Männchen, denn die Weibchen dürfen wählen. Niemand weiß genau, ob die Vögel nun von kleinen Raubdinosauriern abstammen, die über Jahrmillionen Federn entwickelt haben oder ob sie nicht doch aus Lebewesen hervorgehen, die zu häufig vom Baum gefallen sind. Nur wenige Menschen haben in ihrem Leben mehr als 7.000 Vogelarten gesehen, die meisten sind glücklich, wenn sie 300 Vögel auf ihrer „Lifelist“, ihrer Lebensliste, haben.

Immer wieder sucht Philip auf seinem Weg die Uferhänge ab. Wo ist sie nur? Sein absoluter Favorit. Die Wasseramsel. Die mit dem großen weißen Brustlatz. Der einzige heimische Singvogel, der fliegen und tauchen kann. Wasseramseln tauchen, indem sie auf dem Bachgrund gegen die Strömung auf dem Boden laufen. Mit leicht geöffneten Flügeln werden sie so vom Wasserdruck nach unten gedrückt. Das muss man sich mal vorstellen. Kleine Wundertiere, diese Wasseramseln.

Diese blöde Brille. Ständig muss er herumnesteln. Die Stelle fixieren, wo der Vogel sitzt. Brille ab. Fernglas auf. Und hoffen, die Stelle wieder zu finden, wo dieser unbekannte Vogel gerade saß. Die Finger sind schon taub, es ist kälter als gedacht. Da. Da hinten. Das ist doch? Kann es eine Wasseramsel sein? Philips Körper schrumpft unmerklich zusammen, alle Muskeln sind angespannt, der Kopf sinkt zwischen die Schultern. Der Jagdinstinkt ist geweckt. Ach nein, nur eine normale Amsel. Tiefes Ausatmen. Enttäuschung.

Der niederländische Verhaltensbiologe und Nobelpreisträger Nikolaas Tinbergen schreibt, exzessives Vogelbeobachten sei ein Ausdruck des „male hunting instincts“, des männlichen Jagdinstinkts. Der britische Psychologe und Autismusforscher Simon Baron-Cohen bezeichnet es als „male tendency for systemizing“, als männliche Tendenz zum Systematisieren.

Das Ende des Wegs ist erreicht. Die kahlen Büsche geben den Weg frei bis ans Wasser. Einige große Steine am Ufer laden zur Pause ein. Es ist 7.45 Uhr. Philip Winter lässt sich ablenken von seinen Gedanken. Wie er damals, Mitte der Neunziger, 24 Jahre alt, in Berlin den Kinderwagen schob, während die Frau Karriere machte. Am Mauerstreifen entlang. Wie dort die Nachtigallen sangen. Unvergesslich ihre Melodien. So vielfältig. So melodiös. Fast in Moll. Wie er dann anfing, auf dem Sophien-Friedhof zwischen Wedding und Pankow herumzustrolchen, mittlerweile mit zwei Kindern, zwei Mädchen, im Schlepptau.

Diese unglaubliche Dichte an Vogelarten, die es auf dem Land wegen dieser ganzen Monokulturen überhaupt nicht mehr gibt. Seine ersten „Raritäten“, Turmfalken, Grünspechte, alle auf Friedhöfen. Oder die eleganten Mauersegler, die direkt an seiner Dachterrasse im Hinterhof der Soldienenstrasse nisteten. Wie allmählich sein Wissen, seine Erfahrung immer größer wurde, jedes Jahr drei, vier Vögel hinzukamen, bei denen er sich sicher fühlte. Und wie seine Frau sich ebenfalls für Vögel begeistern konnte. Wie es eigentlich das Einzige ist, was ihre Ehe noch zusammenhält. Das Reden über Vögel.

Plötzlich etwas metallisch-blaues-kupfer-orangefarbenes im Anflug, etwa einen Meter über der Wasseroberfläche. Ein kurzes, scharfes Tieh-Tieh. Instinktiv reißt der Körper ihn aus seinen Gedanken. Nein. Doch. Ja. Er ist es! Der Eisvogel. Ein wahrhaft fliegender Edelstein. Vor Aufregung wird Philip fast hektisch. Fast.

Es sind diese Momente, in denen er alles vergessen kann, in denen etwas anderes wichtig ist, etwas anderes als die kalten Finger oder die Ehefrau, die er nur noch auf dem Papier besitzt. Glücksmomente. Momente und ein Gefühl, das man sich nicht kaufen kann, für kein Geld der Welt. Das sind wilde Tiere, unberechenbar, unvorhersehbar. Und doch braucht es mehr als Glück, nämlich Intuition, Offenheit und ein Sichhingeben an die Natur, eine Art von Demut. Dann sind diese Momente gar nicht so selten. Der Eisvogel! Hach. Von diesem Glück wird er ein paar Tage zehren. Zeit für den Schokoriegel.

Der amerikanische Schriftsteller Jonathan Franzen, selbst ein passionierter Vogelbeobachter, gibt zu: Birdwatcher sind sozial gestörte Menschen. Wenigstens befindet er sich in guter Gesellschaft: Teddy Roosevelt, Van Morrison, Prinz Philip, Agatha Christie, Margaret Atwood, Steve Martin, Cameron Diaz und Fidel Castro, angeblich alles Birdwatcher. Auch der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter hat Vögeln nachgestellt, sogar während seiner offiziellen Nahost-Missionen.

Für Philip Winter begann alles auf einem weißen Segelboot, Anfang der Neunziger, irgendwo weit entfernt von den Ufern der Balearen. Ein Freund von einem Freund hatte kurzfristig den Törn abgesagt. Philip sprang ein. Er kannte die anderen nur flüchtig. Drei Tage hatten sie raue See, alle kotzten, nur er nicht. Die Frau auch nicht. Dann Flaute. Ein kalter, sonniger Morgen, so wie heute. Die anderen schliefen, erholten sich unter Deck. Nur er und sie saßen am Bug, in Decken gehüllt, Kaffee in der Hand. Philip war Zwanzig. Sie zehn Jahre älter. Vorsichtiges Gespräch. Dann, wie herbeigezaubert, zwitscherten zwei kleine, bunte, spatzengroße Vögel auf der Reling. Weit und breit kein Land in Sicht. Wie gebannt beobachteten sie die turtelnden Vögel. So fing alles an. Die Liebe, die Kinder, die Vögel. Und mit den Jahren wurde die Passion für die Vögel immer intensiver und ausgefeilter und das Private, die Ehe immer weniger.

Bis heute weiß er nicht, welche Vögel das waren, seinerzeit auf dem Segelboot. Neun Uhr. Immer wieder sieht man jetzt auf der anderen Flussseite vereinzelt Männer herumschleichen, alle irgendwie bundeswehrparkagrün gekleidet, alle ein Fernglas um den Hals, wenige schleppen ein Spektiv. Man redet nicht miteinander. Selbst ein Gutenmorgen scheint zu viel.

Als die Sonne eine Stunde später endlich wärmt, ist es Zeit zu gehen. Schwatzende Sonntagsspaziergänger mit Hunden überall. Um Vögel zu beobachten, muss man Teil der Stille werden, hat Philip Winter mal irgendwo gelesen. Und dafür wird es jetzt definitiv zu laut.

Text | Fotos: Silke-Katinka Feltes

Anmerkung:

Niemand möchte gerne unangenehme Details aus seinem Privatleben in der Zeitung lesen, deshalb haben wir uns entschieden, den Namen des Protagonisten zu ändern. Der Text hat den ersten Preis in der Kategorie „Feature“ der Akademie der Bayerischen Presse erhalten und ist auf ZEIT online erschienen.

Wasser | Wind | Wellen

Komische Vögel

Sie sind früh unterwegs, deshalb sieht man sie nicht. Sie sind leise, deshalb hört man sie nicht. Vogelbeobachter sind seltsame Menschen mit einem faszinierenden Hobby.
Die großen Konzerte gehen erst Ende April los, wenn alle Zugvögel wieder da sind.
Dafür sind Bäume und Büsche jetzt noch kahl wie eine Männerglatze und das Gewusel der Vögel für alle sichtbar.

Der Wecker brummt leise. Bloß niemanden aufwecken. Frau und Kinder wollen schlafen. Es ist Sonntag 5.30 Uhr. Kurz vor der Morgendämmerung. Der Mann ist hellwach, nicht eine Sekunde hat er daran gedacht, sich noch einmal umzudrehen. Rein in die Klamotten, alte Jeans, Kappe aus verblichenem braunen Cord, Parka-ähnliche Jacke mit großen Taschen, in denen allerlei Dinge Platz finden, Bestimmungsbuch, Aufnahmegerät, Schokoriegel. Dann ein schnelles Frühstück, er wird lange unterwegs sein.
Der Mann schlüpft in die Thermogummistiefel und hängt sich sein Fernglas um den Hals, ein Steiner Rocky 12×28. Eine eher ungewöhnliche Vergrößerung, man braucht eine ruhige Hand, erkennt dann umso mehr Details. Erst kürzlich hat er bei eBay nach einem Spektiv geschaut, einem professionellen Beobachtungsfernrohr mit Stativ. Damit käme er noch näher ran. Näher ran an seine große Leidenschaft, die Vögel. Philip Winter ist ein Birdwatcher.

Birdwatcher, der: Gattungsbegriff, der alle jemals einen Vogel beobachtenden Wesen umfasst. Folgende Unterarten kommen vor:

Birder, der: meist männliches, unauffälliges, in tarnfarbene und geräuschminimierende Stoffe gekleidetes Wesen. Auffällige Kennzeichen: baumelndes Fernglas vor der Brust. Unterunterart:

Twitcher oder Spotter, der: Ein Verrückter, meist englischer Nation, der alles stehen und liegen lässt und meilenweit reist, um einen Blick auf einen seltenen Vogel zu erhaschen. Infolgedessen sollen haufenweise Ehen zerbrochen sein.

Ornithologe, der: Wissenschaftler und alle, die sich als solche verstehen, weil sie anhand von Gesang oder Lautäußerungen, Verhalten, Größe, Gestalt, Färbung des Gefieders Vögel bestimmen können. Für alle Arten gilt: Fehlbestimmungen gelten als peinliche, unverzeihliche Blamage.

Am Horizont werden die Alpen von der aufgehenden Sonne in milchiges Licht getaucht. In den Tälern des sanft-hügeligen Voralpenlandes wabern letzte Nebelschwaden. Es ist 6.30 Uhr, Mitte März. Ein Postkarten- Kitsch-Idyll liegt vor Philips Augen, als er das Örtchen Dießen am Ammersee durchquert. Die Welt scheint noch zu schlafen. Er steuert einen Schotterparkplatz am südlichen Rand des Ammersees an, hier beginnt ein Vogelschutzgebiet, ein Hotspot in der Szene. Kein weiteres Auto auf dem Parkplatz. Gut so. Er ist der Erste.

Die Vogelfreistätte Ammersee Südufer ist ein kleines Eldorado für Birdwatcher. Hier brüten zahlreiche gefährdete und vom Aussterben bedrohte Vogelarten. Mehr als 300 davon findet, wer nur gründlich sucht, in Feucht- und Streuwiesen, Flussschlingen und Schlickflächen, Kiesinseln und Moorflächen, Schilf und Röhricht sowie in den dauersumpfigen Wäldern. Geschätzte 10.000 Wasservögel kommen jährlich aus dem Norden zum Überwintern an den See, der vor 15.000 Jahren durch das Abschmelzen der eiszeitlichen Gletscher hervorgegangen ist. Neben den Wintergästen und Brutvögeln gibt es jede Menge sogenannte Durchzügler an Bayerns drittgrößtem See.

6.45 Uhr. Der Boden des Trampelpfades entlang der Ammer ist noch gefroren, Atemwolken vor der Nase, die Sonne bemüht sich. Die Welt hier ist voller Vogelstimmen. Der Lautstärke nach müssen es Hunderttausende sein, zu sehen ist keiner. Zumindest nicht für das ungeübte Auge. Wer je mit einem Vogelbeobachter unterwegs war, weiß: Die sehen und hören Dinge, die für normale Menschen nicht sicht- und hörbar sind. Sie sind auf Herabstürzendes, Aufsteigendes, Gleitendes, Pickendes und Raschelndes abonniert. Sie identifizieren Melodien aus Stimmenwirrwarr. Können Pracht-, Mauser- und Schlichtkleid unterscheiden.

Da, das typische Meisenläuten. Dort das abschwellende Trillern mit einem Nachklang, das sind die Buchfinken. Und hier eindeutig eine Tannenmeise, dieser etwas gequetschte, genuschelte Ton. Oder da, das Geschnackel der Wacholderdrossel. Der laute Kleiber mit seinem durchdringenden Pfeifton. Der Buntspecht klopft, singt dafür aber nicht. Das schwerfällige Flügelrauschen des Graureihers in den Lüften. Der winzig kleine Zaunkönig mit seiner schönen Mischung aus Zwitschern, Trillern und Pfeifen. Dazwischen immer wieder die genervte Amsel. Und oh, da hinten, das könnte der erste Zilpzalp sein.

Die großen Konzerte gehen erst Ende April los, wenn alle Zugvögel wieder da sind, Singdrossel, Mönchsgrasmücke, Laubsänger, Fitis, Schwarzkehlchen und Sommergoldhähnchen. Dafür sind Bäume und Büsche jetzt noch kahl wie eine Männerglatze und das Gewusel der Vögel für alle sichtbar. Wenn man viel Glück hat, kann man jetzt schon einen Kiebitz beobachten, wie er mit akrobatischen, nahezu waghalsigen Flugmanövern seine sexuelle Attraktivität erhöhen will. Es ist eine andere, eine wilde, laute Welt, die da über unseren Köpfen lebt.

Rund 10.000 Vogelarten gibt es weltweit. Meist singen und protzen nur die Männchen, denn die Weibchen dürfen wählen. Niemand weiß genau, ob die Vögel nun von kleinen Raubdinosauriern abstammen, die über Jahrmillionen Federn entwickelt haben oder ob sie nicht doch aus Lebewesen hervorgehen, die zu häufig vom Baum gefallen sind. Nur wenige Menschen haben in ihrem Leben mehr als 7.000 Vogelarten gesehen, die meisten sind glücklich, wenn sie 300 Vögel auf ihrer „Lifelist“, ihrer Lebensliste, haben.

Immer wieder sucht Philip auf seinem Weg die Uferhänge ab. Wo ist sie nur? Sein absoluter Favorit. Die Wasseramsel. Die mit dem großen weißen Brustlatz. Der einzige heimische Singvogel, der fliegen und tauchen kann. Wasseramseln tauchen, indem sie auf dem Bachgrund gegen die Strömung auf dem Boden laufen. Mit leicht geöffneten Flügeln werden sie so vom Wasserdruck nach unten gedrückt. Das muss man sich mal vorstellen. Kleine Wundertiere, diese Wasseramseln.

Diese blöde Brille. Ständig muss er herumnesteln. Die Stelle fixieren, wo der Vogel sitzt. Brille ab. Fernglas auf. Und hoffen, die Stelle wieder zu finden, wo dieser unbekannte Vogel gerade saß. Die Finger sind schon taub, es ist kälter als gedacht. Da. Da hinten. Das ist doch? Kann es eine Wasseramsel sein? Philips Körper schrumpft unmerklich zusammen, alle Muskeln sind angespannt, der Kopf sinkt zwischen die Schultern. Der Jagdinstinkt ist geweckt. Ach nein, nur eine normale Amsel. Tiefes Ausatmen. Enttäuschung.

Der niederländische Verhaltensbiologe und Nobelpreisträger Nikolaas Tinbergen schreibt, exzessives Vogelbeobachten sei ein Ausdruck des „male hunting instincts“, des männlichen Jagdinstinkts. Der britische Psychologe und Autismusforscher Simon Baron-Cohen bezeichnet es als „male tendency for systemizing“, als männliche Tendenz zum Systematisieren.

Das Ende des Wegs ist erreicht. Die kahlen Büsche geben den Weg frei bis ans Wasser. Einige große Steine am Ufer laden zur Pause ein. Es ist 7.45 Uhr. Philip Winter lässt sich ablenken von seinen Gedanken. Wie er damals, Mitte der Neunziger, 24 Jahre alt, in Berlin den Kinderwagen schob, während die Frau Karriere machte. Am Mauerstreifen entlang. Wie dort die Nachtigallen sangen. Unvergesslich ihre Melodien. So vielfältig. So melodiös. Fast in Moll. Wie er dann anfing, auf dem Sophien-Friedhof zwischen Wedding und Pankow herumzustrolchen, mittlerweile mit zwei Kindern, zwei Mädchen, im Schlepptau.

Diese unglaubliche Dichte an Vogelarten, die es auf dem Land wegen dieser ganzen Monokulturen überhaupt nicht mehr gibt. Seine ersten „Raritäten“, Turmfalken, Grünspechte, alle auf Friedhöfen. Oder die eleganten Mauersegler, die direkt an seiner Dachterrasse im Hinterhof der Soldienenstrasse nisteten. Wie allmählich sein Wissen, seine Erfahrung immer größer wurde, jedes Jahr drei, vier Vögel hinzukamen, bei denen er sich sicher fühlte. Und wie seine Frau sich ebenfalls für Vögel begeistern konnte. Wie es eigentlich das Einzige ist, was ihre Ehe noch zusammenhält. Das Reden über Vögel.

Plötzlich etwas metallisch-blaues-kupfer-orangefarbenes im Anflug, etwa einen Meter über der Wasseroberfläche. Ein kurzes, scharfes Tieh-Tieh. Instinktiv reißt der Körper ihn aus seinen Gedanken. Nein. Doch. Ja. Er ist es! Der Eisvogel. Ein wahrhaft fliegender Edelstein. Vor Aufregung wird Philip fast hektisch. Fast.

Es sind diese Momente, in denen er alles vergessen kann, in denen etwas anderes wichtig ist, etwas anderes als die kalten Finger oder die Ehefrau, die er nur noch auf dem Papier besitzt. Glücksmomente. Momente und ein Gefühl, das man sich nicht kaufen kann, für kein Geld der Welt. Das sind wilde Tiere, unberechenbar, unvorhersehbar. Und doch braucht es mehr als Glück, nämlich Intuition, Offenheit und ein Sichhingeben an die Natur, eine Art von Demut. Dann sind diese Momente gar nicht so selten. Der Eisvogel! Hach. Von diesem Glück wird er ein paar Tage zehren. Zeit für den Schokoriegel.

Der amerikanische Schriftsteller Jonathan Franzen, selbst ein passionierter Vogelbeobachter, gibt zu: Birdwatcher sind sozial gestörte Menschen. Wenigstens befindet er sich in guter Gesellschaft: Teddy Roosevelt, Van Morrison, Prinz Philip, Agatha Christie, Margaret Atwood, Steve Martin, Cameron Diaz und Fidel Castro, angeblich alles Birdwatcher. Auch der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter hat Vögeln nachgestellt, sogar während seiner offiziellen Nahost-Missionen.

Für Philip Winter begann alles auf einem weißen Segelboot, Anfang der Neunziger, irgendwo weit entfernt von den Ufern der Balearen. Ein Freund von einem Freund hatte kurzfristig den Törn abgesagt. Philip sprang ein. Er kannte die anderen nur flüchtig. Drei Tage hatten sie raue See, alle kotzten, nur er nicht. Die Frau auch nicht. Dann Flaute. Ein kalter, sonniger Morgen, so wie heute. Die anderen schliefen, erholten sich unter Deck. Nur er und sie saßen am Bug, in Decken gehüllt, Kaffee in der Hand. Philip war Zwanzig. Sie zehn Jahre älter. Vorsichtiges Gespräch. Dann, wie herbeigezaubert, zwitscherten zwei kleine, bunte, spatzengroße Vögel auf der Reling. Weit und breit kein Land in Sicht. Wie gebannt beobachteten sie die turtelnden Vögel. So fing alles an. Die Liebe, die Kinder, die Vögel. Und mit den Jahren wurde die Passion für die Vögel immer intensiver und ausgefeilter und das Private, die Ehe immer weniger.

Bis heute weiß er nicht, welche Vögel das waren, seinerzeit auf dem Segelboot. Neun Uhr. Immer wieder sieht man jetzt auf der anderen Flussseite vereinzelt Männer herumschleichen, alle irgendwie bundeswehrparkagrün gekleidet, alle ein Fernglas um den Hals, wenige schleppen ein Spektiv. Man redet nicht miteinander. Selbst ein Gutenmorgen scheint zu viel.

Als die Sonne eine Stunde später endlich wärmt, ist es Zeit zu gehen. Schwatzende Sonntagsspaziergänger mit Hunden überall. Um Vögel zu beobachten, muss man Teil der Stille werden, hat Philip Winter mal irgendwo gelesen. Und dafür wird es jetzt definitiv zu laut.

Text | Fotos: Silke-Katinka Feltes

Anmerkung:

Niemand möchte gerne unangenehme Details aus seinem Privatleben in der Zeitung lesen, deshalb haben wir uns entschieden, den Namen des Protagonisten zu ändern. Der Text hat den ersten Preis in der Kategorie „Feature“ der Akademie der Bayerischen Presse erhalten und ist auf ZEIT online erschienen.

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