Wer ist eigentlich dieser Miene Gruber, der neue Pächter des Strandbad Utting?
Eine Annäherung an ein Leben als Rockstar, Gastronom, Künstler und Demotivationstrainer.
Geschrieben von seinem Freund, Bewunderer und Autor des Schondorf-Blogs Leo Ploner.
Anfang Mai 2024. Bei der Neueröffnung des Ausstellungsraums raumB1 in Utting. Martin „Miene“ Gruber, alias Dr. Mario Milchbrandtweinstätter, steht hochkonzentriert in der kleinen Galerie und schmückt die Wände mit einer seiner Ein-Strich-Zeichnungen. Die Anspannung ist ihm anzusehen. Bei jeder Biegung und Kurve des Strichs muss er entscheiden, wie es weitergeht. Die durchgehende Linie darf sich nämlich an keiner Stelle überschneiden. Seit eineinhalb Stunden zeichnet er schon und hat gerade einmal zwei der vier Wände fertig.
„Das Konzept der Ein-Strich-Zeichnung habe ich Mitte der 90er-Jahre an der Münchner Akademie der Bildenden Künste entwickelt“, sagt Miene Gruber mit seinem sehr breiten Grinsen. Die Aussage ist nicht gelogen, führt aber trotzdem auf eine falsche Fährte. Damals war Miene nämlich kein hoffnungsvoller Jungkünstler, sondern ein erfolgreicher Rockstar. Er ist Mitglied der Rockband „Schweisser“, die gerade einen kometenhaften Aufstieg erlebt. Fans in ganz Europa sind begeistert von der energiegeladenen Mischung aus Punk, Industrial und Metal, für die sich die Bezeichnung „Neue Deutsche Härte“ einbürgert. Ein ganz eigener Sound entsteht dadurch, dass Miene Gruber ein Instrument spielt, das bei Rockbands nur selten zu finden ist: das Saxofon. Die Videos der Schweisser laufen auf MTV und Viva, es gibt Auszeichnungen von Musikmagazinen wie „Metal Hammer“, und 1995 spielt die Band vor über 50.000 Zuschauern beim Dynamo Open Air in Holland.
Da er damals ohnehin ständig zwischen Probenraum, Konzertauftritten und Aufnahmestudio pendelte, lebt Miene Gruber im Campingbus. Den hat er in der Münchner Akademiestraße geparkt und nutzt fleißig die Waschgelegenheiten und das Cafe der Kunsthochschule. Dabei belauscht er oft Gespräche zwischen Studenten und Professoren: „Mir ist aufgefallen, dass es denen gar nicht um die Bilder ging, sondern um möglichst hochgestochene und abgehobene Beschreibungen ihrer Arbeiten.“
Als ironischen Kommentar zu diesem Kunst-Sprech macht er kindliche Strichzeichnungen, die er mit esoterisch aufgeblasenen Sätzen schmückt. Die witzigen Bildchen kommen bei seinen Freunden gut an, und das ist die Geburtsstunde von Grubers künstlerischem Alter Ego: Dr. Mario Milchbrandtweinstätter. Der macht mit der Zeit immer ausgefeiltere Ein-Strich-Zeichnungen, in denen Landschaften, Menschen und Tiere klar zu erkennen sind. Irgendwann bastelt er für Freunde einen Kalender, für den er zwölf seiner Zickzack-Grafiken zusammenheftet.
Mit Ironie und Humor für das gepflegte Scheitern
Nicht schnurgerade sondern im Zickzack verläuft damals auch der Lebensweg von Miene Gruber. Trotz – oder vielleicht auch wegen – des kommerziellen Erfolgs steigt er im Jahr 2000 bei den Schweissern aus und wird Kneipenwirt. Erst betreibt er mit seinem Freund Harry Wilden-stein die KuBa am Schondorfer Bahnhof, dann eröffnet er in Herrsching die Bayerische Brandung, einen kultigen Kiosk oder wie er selbst sagt, „den Kristallisationspunkt Herrschinger Bierseligkeit“.
Zur Saison 2025 kommt er nun wieder zurück an die Westküste des Ammersees und zwar als Pächter des legendären Strandbades in Utting mit seinem markanten hölzernen Sprungturm. Miene plant bereits kleine Auffrischungen. Sicher ist: Statt einer weiteren Schickimicki-Location am Ammersee soll das Strandbad das „Außenwohnzimmer“ der Uttinger werden. Dazu wird es eine kleine Speisekarte mit frischen Gerichten zu fairen Preisen geben. Miene Gruber wird in gewohnter Manier an der Theke Bier, Wein und immer mal wieder einen frechen Spruch servieren.
Die Arbeit hinter der Theke erweist sich für den Gastronom und Künstler übrigens als perfekte Inspirationsquelle. Das Macho-Gehabe und die protzige Angeberei mancher Gäste finden sich regelmäßig in seinen Zeichnungen. Regelmäßig porträtiert werden auch Esoteriker, Gurus und Lebensberater aller Couleur. „Nach fünf Bier reden die Erfolgstrainer oft erstaunlich freimütig über ihre Arbeit“, so Gruber. Er erinnert sich an zwei Coaches, die über ihre gutbezahlte Arbeit im Bereich Team-Building lästerten und bestätigten: Wer als Mitarbeiter emotional im Team eingebunden sei, der würde mehr Überstunden machen, so die Logik der Konzerne. Ein Schlüsselerlebnis für Dr. Mario Milchbrandtweinstätter, der daraufhin gleich in eine weitere Rolle schlüpft, nämlich in die des Demotivationstrainers. Das Problem der Menschen sei nicht ein Mangel, sondern ein Übermaß an Motivation, analysiert er. Deshalb trainiert er in seinen Seminaren nicht die Selbstoptimierung, sondern das gepflegte Scheitern.
Seine Kunst ist Hochleistungssport
Seine Zeichnungen zu diesen Themen werden über die Jahre immer komplexer. Das liegt auch daran, dass Gruber irgendwann die eigenen Vorgaben erschwert. Das Bild muss nicht mehr nur aus einer einzigen Linie bestehen, diese Linie darf sich auch an keiner Stelle überkreuzen. Am schwierigsten seien dabei die Augen, verrät der Künstler. Hier sei die Gefahr am Größten, sich in dem selbstgeschaffenen Labyrinth zu verirren und keinen Ausgang mehr zu finden. Falls ihm das passiert, ist er konsequent. Das Blatt landet im Papierkorb, denn Tipp-Ex oder Radiergummi sind in der Milchbrandtweinstätterschen Kunstethik verpönt.
Bei der Live-Performance im raumB1 ist so ein Neustart natürlich nicht möglich. Da muß jede Biegung und jeder Kringel gut überlegt sein. Die Anspannung sieht man Gruber an diesem Abend deutlich an. Schwitzend wie ein Leistungssportler zieht er die Linie und überlegt zwischendrin nur kurz, wo der nächste Strich hinführen soll.
Am Ende hat er über drei Stunden Arbeit und vier Edding-Marker gebraucht, um den raumB1 innen mit einem durchgängigen Wandbild zu schmücken. Darauf ist eine ganze Lebensgeschichte zu sehen, von Geburt über jugendliches Aufbegehren, beruflichen Erfolg, Absturz und Läuterung bis zu einem ziemlich bizarren Ende. Man sieht Wälder, Berge, Wolken, Schiffe, Autos, Menschen, Tiere und Monster – ein ganzes Epos, dargestellt in einer einzigen, ununterbrochenen Linie.
Das Publikum ist begeistert und feiert den Künstler wie einen Rockstar. Dr. Mario Milchbrandtweinstätter hat an diesem Abend sicher viele neue Fans gewonnen. Wahrscheinlich hängt nächstes Jahr in noch mehr Wohnungen sein Jahreskalender mit dem Arbeitstitel „Unkünstliche Intelligenz“ (zu beziehen über die Buchhandlung Colibri in Dießen).
Zur Person
Martin „Miene“ Gruber gibt ungerne Persönliches preis. Wenn es nach ihm ginge, würde hier lediglich stehen: „Schuhgröße variiert zwischen 45 und 46“. Aus zuverlässiger Quelle wissen wir etwas mehr: Er wurde in Landsberg am Lech geboren und wuchs in Utting am Ammersee auf. Arbeitete als Landschaftsgärtner bevor er seine Berufung als Rockmusiker, Gastronom, Ein-Strich-Zeichner und Demotivationstrainer entdeckte. Wenn er nicht hinter der Theke steht oder als Dr. Mario Milchbrandtweinstätter unterwegs ist, findet man ihn auf den Brettern, die für ihn die Welt bedeuten, nämlich Ski, Surf-, SUP- und Snowboardbretter. Lauter Sportgeräte also, bei denen es darum geht, möglichst elegante Linien zu ziehen, wie seine Ein-Strich-Zeichnungen.