Es geschieht direkt vor unseren Augen und doch sehen wir oft weg. In Sportvereinen, Schulen, in unserer Nachbarschaft – der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen ist eine erschütternde Realität, die näher ist, als wir glauben möchten. Jutta Engl ist Vertrauensperson für Prävention sexueller Gewalt im VfL Kaufering und kämpft für Aufklärung an allen Fronten.
Eine Geschichte über zerbrochene Unschuld, gesellschaftliche Verantwortung und die dringende
Notwendigkeit, das Schweigen zu brechen.
Jeden Tag werden in Deutschland 54 Kinder sexuell missbraucht. Sagt Bundesinnenministerin Nancy Faeser auf der Bundespressekonferenz im Juli 2024. In den vergangenen fünf Jahren allein haben sich die Missbrauchsfälle an Kindern und Jugendlichen verdreifacht. Sagt die BKA-Vizepräsidentin Martina Link auf eben jener Pressekonferenz.
Das sind aufs Jahr gerechnet mehr als 19.000 Kinder! In Deutschland!! Und das ist ehrlich gesagt nur die offizielle Statistik. Die Dunkelziffer, also die Fälle, die nicht an die Öffentlichkeit kommen, ist erheblich höher.
Die Zahlen klingen abstrakt. Man liest sie, denkt: wie schlimm. Und dann: Was gibt’s heute zum Abendessen? Dabei steckt hinter jeder einzelnen Zahl eine individuelle Leidensgeschichte, ein Mädchen, ein Junge. Man muss sich das bewusst machen: Wenn`s das eigene Kind wäre, wie fürchterlich wäre das?
Aber bei uns passiert ja sowas nicht. Nicht in Landsberg, dieser schönen, wohlhabenden Stadt, nicht im Landkreis, hier ist doch die Welt noch in Ordnung. Nun ja, verdrängen konnten wir schon immer gut. „Sexueller Missbrauch findet vor allem dort statt, wo nicht über die Problematik gesprochen wird.“ Betont die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in ihrem Ratgeber für Eltern.
Körperberührungen gehören zum Sport
Vor zwei Jahren wurde nun im Landkreis Landsberg ein Fall von Kindesmissbrauch bekannt. Zwei zwölfjährige Mädchen wurden von ihrem 20-jährigen Trainer sexuell bedrängt. Im Geräteraum der Turnhalle des VfL Kaufering kam es zum Übergriff. In der Lokalpresse ist von weiteren Mädchen und erzwungenen Nacktbildern die Rede. Der junge Mann gestand und wurde zu zwei Jahren Jugendstrafe auf Bewährung verurteilt. Er ist, so hört man, mittlerweile aus dem Landkreis weggezogen.
Nun liegt es in der Natur der Sache, dass Sport immer körperlich ist. Man schwitzt, man kämpft, man rempelt, man umarmt sich beim Sieg, man zieht sich gemeinsam um und duscht vielleicht zusammen. Man könnte sagen: Körperberührungen gehören zum Sport.
Jutta Engl hat ihr Leben lang Sport gemacht – unter anderem Rock’n’Roll. Diesen akrobatischen, schnellen und körperlich herausfordernden Tanz. Noch heute tanzt sie gelegentlich Boogie Woogie, die nicht ganz so anstrengende, aber immer noch sportliche Tanzvariante. Man könnte sagen: Enger Körperkontakt im Sport ist ihr vertraut.
Jutta Engl hat unzählige Kinder- und Jugendgruppen im Rock’n’Roll unterrichtet. Hat Choreografien einstudiert und ist mit ihren Kids auf Veranstaltungen aufgetreten. Die Übungsleiterin und Trainerin weiß, wieviel Spaß Sport machen kann.
Und: Für Jutta Engl ist ehrenamtliches Engagement selbstverständlich. Schon seit vielen Jahren ist sie beim VfL Kaufering mal Abteilungsleiterin, mal Sportwart oder nun im erweiterten Vorstand als Vertrauensperson für sexuelle Gewalt im Sport. Während Corona hat sie ihr Engagement heruntergefahren. Als Klaus Rehekampff, Vorstand des VfL sie fragte, ob sie mit in den Vorstand wolle, lehnte sie ab. Aber vielleicht so eine kleine, wenig arbeitsaufwändige Stelle wäre doch drin, fragte Rehekampff weiter. Also gut, dann wurde sie 2021 Vertrauensperson für das Themengebiet Sexueller Missbrauch im Sport. Ein bisschen Präventionsarbeit, dachte sie, Übungsleiter sensibilisieren, mal eine Infoveranstaltung vielleicht.
Ein paar Wochen später kam der Anruf. Sie solle kommen. Zwei Mädchen, drei Trainer saßen vor der Sporthalle, sichtlich geschockt.
„Für die Mädchen war es zunächst äußert schwierig, darüber zu sprechen und die Trainer konnten einfach nicht glauben, dass ihr geschätzter Kollege, so etwas getan haben sollte“, sagt Jutta Engl. Die nächsten Tage bezeichnet sie als extrem anstrengend, denn es musste einfach sehr schnell das richtige Vorgehen geklärt werden. Was würde passieren, wenn alles rauskommt? Wem was sagen? Wen mit einbeziehen? Wen warnen? Wen informieren? Und überhaupt: Was tun??
Schweigen ist kein Schutz
Jutta Engl hat mittlerweile einige Fortbildungen im Bereich Sexuelle Prävention gemacht, doch damals war sie nicht mehr als ein Vereinsmitglied, das sich ehrenamtlich engagierte. „Ich habe mir dann schnell mit Bianca Karlstetter eine Fachkraft mit ins Boot geholt, sonst hätte ich das nicht geschafft, auch emotional nicht.“ Bianca Karlstetter war damals die einzige Mitarbeiterin der Fachstelle Sexueller Missbrauch, finanziert vom Landratsamt, durchgeführt beim SOS-Kinderdorf Ammersee-Lech.
Es folgten Gespräche mit den Eltern, mit den weiteren Sportlern und Trainern, mit dem Vorstand und schließlich mit der Kripo Fürstenfeldbruck. Es wurde eine neutrale Pressemitteilung formuliert, „wir mussten alles neutral halten, es war ja noch nichts bewiesen.“ Die Eltern entschlossen sich zur Anzeige. Der Prozess nahm seinen Lauf.
Und Jutta Engl stieg tiefer in das Thema ein. Heute gibt es im VfL Kaufering ein Präventionskonzept, eine deutliche Erklärung auf der Homepage, ein erweitertes Führungszeugnis und eine Selbstverpflichtungserklärung für alle neuen Trainer sowie Infomaterial für Kinder, Jugendliche und Eltern.
Und es gibt ein Gesicht und eine Nummer, an die man sich immer wenden kann, Jutta Engl. „Prävention ist gut und wichtig“, sagt sie, „aber wir brauchen dringend fachliche Unterstützung im Akutfall. Denn ein noch so engagiertes ehrenamtliches Mitglied kann ein ausgebildetes Fachpersonal einfach nicht ersetzen.“
Nach langem Hin und Her – Bianca Karlstetter und die SOS-Beratungsstelle kündigten den Vertrag, weil sie auf einer Teilzeitstelle dem Bedarf nicht gerecht werden konnten, so stand es in der Tagespresse – gibt es seit Januar 2025 wieder eine Fachstelle. Leider, so Jutta Engl, wieder nur eine Teilzeitstelle.
sexuelle Gewalt in den digitalen Medien hat massiv zugenommen
Übrigens ist sexuelle Gewalt nicht nur ein tätlicher ungewollter Übergriff, sondern auch verbale Belästigung, voyeuristisches Verhalten oder das Zusenden oder Zeigen von pornografischen Abbildungen oder Filmen. Massiv zugenommen hat auch die sexuelle Gewalt mittels digitaler Medien (z. B. Deepfake-Nudes, Cybergrooming etc.).
Jutta Engl betont immer wieder: Kein Kind kann sich allein vor sexuellem Missbrauch schützen. Es sind die Erwachsenen, die für den Schutz von Kindern verantwortlich sind. „Wir müssen immer wieder darüber reden. Potentielle Täter kommen nicht dahin, wo sie wissen, dort wird hingeschaut, dort sind die Leute sensibilisiert.“ Deshalb ist der VfL Kaufering mit gutem Beispiel vorangegangen.
Hilfsangebote
Infomaterial für Jungs, Mädchen und Eltern gibt es für Vereinsmitglieder bei Jutta Engl unter:
vertrauensperson@vflkaufering.de
Im Notfall sowie zur telefonischen Beratung „rund um die Uhr“ wendet man sich an VIA – Wege aus der Gewalt, Beratungsstelle Landsberg unter: 08191 940 69 87.
Persönliche Termine bei VIA im Vorderen Anger 21 auf Anfrage. Die Beratung ist anonym und kostenlos!