Wenn die Seele streikt. Wenn der Körper nicht mehr so mitmacht, wie man es gewohnt ist. Wenn die Lust am Leben abhandengekommen ist. Dann hilft manchmal der Kontakt mit Tieren.Über eine Therapiestunde mit Schafen.
I Das Setting
Der Blick ist herrlich. Auf der einen Seite ragt die Zwiebelturmspitze in den februarblauen Himmel. Auf der andern glitzert der Ammersee. Dazwischen der Klostergarten in winterlichem Graubeige. Es ist kalt. Vier Frauen, drei Männer. Im Halbkreis. Alle haben einen besonderen Grund genau hier zu sein, in der Psychosomatischen Klinik im Kloster Dießen. Dazu kommen ein Schäfer, vier Schafe, drei Hütehunde und die Therapeutin. Anderthalb Stunden wird diese besondere Therapieeinheit dauern. Tiergestützte Intervention heißt sie und ist ein erfolgversprechendes alternativmedizinisches Behandlungsverfahren. Seit fünf Jahren kommen in der Klinik Schafe, Esel und Pferde zum Einsatz.
II Die Vorbereitung
Wann empfinde ich Nähe als bedrohlich? Ist es alleine der räumliche Abstand? Oder auch der Ausdruck im Gesicht meines Gegenübers? Die Haltung, die Ausstrahlung, mit der er sich mir nähert? Wann ist meine Grenze überschritten und woran merke ich das?
Im Vorfeld der tiergestützten Therapie klären die Teilnehmer:innen in einer Sitzung zunächst „Mensch zu Mensch“ ihre persönliche Gefühlslage. Wahrnehmungsschulung nennt das Sarah Völkel, 29, Pflegekraft und Leiterin der Abteilung Tiergestützte Intervention. Es geht viel um inneres Erleben, um Körpersprache und Körperpräsenz. Wann fühle ich mich bedroht, wann sicher? Achtsamkeits-Übungen.
Im Klostergarten folgt „die Gefühlsampel“: Wie geht es mir hier und jetzt? „Die Tiere lesen zwischen den Zeilen“, sagt Markus Schnitzler, der Schäfer. Sie spüren die Dinge, die wir gerne vor anderen verbergen würden. Unsere Unsicherheit, unsere Aggressionen, unsere Trauer.
III Die Protagonistinnen
Auf der Wiese: Vier Schafe der Rasse Kerry-Hill. Schafe sind Fluchttiere. Sie sind darauf angewiesen, die Gefühle anderer Lebewesen zu lesen. Anhand der Körperhaltung, des Blickes können sie erkennen, ob Gefahr besteht oder nicht. Alle Fluchttiere, so erläutert der Schäfer, haben ein gemeinsames Merkmal: Ihre Augen sitzen seitlich am Kopf. Durch diesen 320-Grad-Blick haben sie ständig ihre Umgebung im Blick. Bei Schafen gibt es noch die Besonderheit der ovalen Pupille, die horizontal ausgerichtet bleibt, auch wenn die Tiere den Kopf zum Grasen neigen.
„Beutegreifer“ wie Hunde, Wölfe und auch Menschen haben die Augen vorne. Sie können stieren und fixieren. Wenn nun der Wolf satt ist und Zufriedenheit ausstrahlt, erkennen die Schafe das und haben kein Problem mit des Wolfes Nähe. Die Wohlfühldistanz sinkt.
So geben die Schafe Hinweise, was sie bei den Patient:innen wahrnehmen, wenn diese sich ihnen nähern. Körperspannung, Blickkontakt, Bewegung, alles wird wahrgenommen. Sie sind sehr empfindlich. Doch aus irgendeinem Grund sind die Tiere heute störrisch. Auch schieben und drücken hilft nicht, um sie dorthin zu bewegen, wo sie hinsollen. Die Therapeutin hatte eine eindeutige Aufgabe gestellt: Die Tiere ruhig von einer Ecke des Gartens in die andere zu treiben.
IV Die Therapeutin
Sarah Völkel leitet die Gruppe. Sie vergibt je nach Gemütslage der Schafe und der Menschen Aufgaben. So nah wie möglich an die Schafe herankommen. Sie über eine mit Holzbalken angedeutete „Brücke“ leiten. Ihren Charakter studieren. Hinterher wird jede Erfahrung reflektiert. Wie sind sie mit der Frustration umgegangen? Wie war es für die Managerin mal keine Anweisungen zu geben und passiv sich der Gruppe zu fügen? Wie hat sich der Schüchterne gefühlt in seiner Rolle als Schafantreiber?
„Viele sagen hinterher, sie hätten ihren Tinnitus oder ihre Schmerzen vergessen. Im Umgang mit den Tieren kann man im Hier und Jetzt ankommen.“
Und noch etwas ist wichtig: Die Tiere werten nicht. „Wir hatten mal eine Frau, die wollte nicht mitmachen und setzte sich auf eine Bank. Ein bestimmter Esel kam zu ihr und stand einfach da. Kein anderer Esel durfte herankommen. Es war, als ob er sie abschirmte und schützte. Plötzlich standen der Frau Tränen in den Augen und etwas löste sich.“
V Die Menschen
Jede, jeder trägt seinen imaginären Rucksack mit sich. Darin wahlweise: Depressionen, Burnout, Traumata, Missbrauchserfahrungen, innere Leere, Überforderung im Beruf, Arbeitssucht, Internetsucht. Die Liste ist lang. Vier, sechs, acht, manchmal zehn oder zwölf Wochen leben die Patient:innen in der Klinik.
Was vielen schwer fällt: Die eigenen Gefühle in Worte zu kleiden. Achtsam mit sich selbst umzugehen. Herauszufinden: Was tut mir gut? Was brauche ich jetzt?
Die Therapie mit Tieren ist nur ein kleiner Teil des gesamten Klinikprogramms. Doch durch die nonverbale Kommunikation kann sie viel tiefer wirken als herkömmliche Therapiemethoden.
VI Der Schäfer
Der zweite Therapeut im Bunde ist der Schäfer. Der Schäfer ist eigentlich gelernter Metzger. Bis heute verkauft Markus Schnitzler sein Lammfleisch auf dem Dießener Samstagsmarkt. Später absolvierte er eine landwirtschaftliche Ausbildung und wurde Meister der Schäferei. Gemeinsam mit seinem Vater ist er schon lange im landwirtschaftlichen Bereich des Klosters
tätig. Als Teile davon vor fünf Jahren verkauft und in eine psychosomatische Klinik umgewandelt wurden, habe ihn Professor Bert te Wild gefragt, ob er sich die gemeinsame Arbeit mit Tieren und Patienten vorstellen könne. Daraufhin hat Schnitzler eine Ausbildung zum tiergestützten Therapeuten absolviert und ist jetzt Teil des Teams. Markus Schnitzler ist, das kann man getrost sagen, Schäfer aus Leidenschaft, man schaue nur den 45-minütigen Film in der Mediathek des Bayrischen Rundfunks „Verrückt nach Schafen“.
VIII Und nun?
Zum Abschluss gibt es eine Tüte altes Brot. Spätestens jetzt ist die Distanz zwischen Tier und Mensch aufgehoben. Die Schafe drängen sich eng um die Patient:innen, der Fresstrieb scheint eindeutig ausgeprägter als der Fluchtreflex. Auch bei den Patient:innen ist die Anspannung weg. Es wird gelacht und gescherzt. In der abschließenden Reflektionsrunde erzählt jeder von seinem Befinden. Von Humor bis Ablehnung ist alles dabei. Einer sagt: „Ich wäre froh, wenn ich bei Menschen so wie bei den Schafen immer erkennen könnte, woran ich bin.“