Hammer | Hobel | Hände

Wenn Engel reisen

Jedes Jahr zu Weihnachten gehen hunderte Engel auf die Reise. Sie fliegen in die USA, nach Japan und in die Schweiz. Viele bleiben natürlich auch in Deutschland und beglücken hier kleine und große Sammler:innen. Alle Engel haben eines gemeinsam: Sie stammen aus Dießen. Genauer gesagt aus der kleinen, traditionsreichen Zinnmanufaktur Wilhelm Schweizer.

In einem fensterlosen, gut verschlossenen Raum lagern auf dem Boden silbrig glänzende Zinnbarren, ein jeder drei Kilo schwer. In den Regalen darüber Schieferplatten, wie dicke Bücher nebeneinander aufgereiht. Sie sind das eigentlich Wertvolle in diesem Raum. In tage-, manchmal wochenlanger Arbeit hat eine Graveurin mithilfe von bis zu zehn unterschiedlichen ‚Sticheln‘ eine feinziselierte Figur aus dem Schiefer herausgeschnitzt, Vorder- und Rückseite unterschiedlich, aber unbedingt passgenau. Das ist wie Miniatur-Bildhauerei, nur negativ gesehen, denn die Platte wird später geschlossen und mit einer 400 Grad heißen Zinn-Legierung gefüllt.

Das Gießen ist wiederum eine eigene, komplexe Handwerkskunst. Da braucht es jahrelange Erfahrung, Ausdauer und Feingefühl. Nicht umsonst sind die Gießerinnen (es sind überwiegend Frauen) in der Dießener Manufaktur schon seit mehr als 35 Jahren dabei. Was früher ein Ausbildungsberuf war, wird heute nur noch innerhalb des Betriebes weitergegeben. Leon Tropp, Teil des dreiköpfigen Führungsteams: „Man denkt, das flüssige Zinn müsse doch einfach nur in das kleine Loch oben an der Form gegossen werden, aber da spielen so viele unterschiedliche Faktoren eine Rolle, nicht zuletzt die Tagesverfassung der Gießerin.“

Binnen Sekunden erkaltet das Material und der erste Engel ist als Rohling fertig. Zack, zack geht es weiter und eine Figur nach der anderen entsteht. Je nach Gemütslage und Tagesform entstehen so zwischen 20 und 40 Engel pro Stunde. Unser Engel wandert nun einen Arbeitstisch weiter, zu den Frauen mit der Kneifzange. Sie sind die inoffizielle Qualitätskontrolle: Ist alles dran? Nein? Dann zurück zum Einschmelzen. Wenn alles gut ist, „entgraten“ sie den Rohling und glätten die scharfen Kanten. Auch das ist reine Handarbeit. Jetzt noch das Logo der Manufaktur unten aufgeklebt und weiter geht es zu den Maler:innen. Mit feinstem Pinsel und Emaillelack bekommen die Engel nun ihre Seele.

Jeder Engel ist so tatsächlich ein Unikat. Einer, der nun über die Weihnachtsmärkte, den Laden in der Dießener Herrenstraße Nummer 7, die zahlreichen Händler oder über den Internetshop seinen Weg in die Stuben der Menschen findet, auf dass es wieder Weihnachten werde.

Tradition und Moderne

Die erste Zinnfigur in der Familiengeschichte Schweizer wurde 1796 von dem Goldschmied Adam Schweizer gegossen, und zwar mit Gussformen aus Solnhofer Schieferplatten, die vom Bau der Dießener Klosterkirche übriggeblieben waren. Die Wallfahrtsorte von Andechs bis Altötting wurden damals mit Heiligenfiguren, Monstranzen und allerlei Devotionalien beliefert. Im Laufe der Zeit wechselten die Erzeugnisse von religiös zu profan. Auch Teller, Krüge und Zinnknöpfe für Trachten wurden nach und nach von den beliebten filigranen Jahreszeitenfiguren und Szenen aus dem bayerischen Brauchtum abgelöst. Jährlich entwickelt das junge Team rund um die Firmeninhaber Martin Schweizer (34), Leon Tropp (25) und Joan Miquel Arau-Schweizer (25) zwei neue Osterfiguren und fünf neue Weihnachtsmotive. „Wir gießen noch wie vor 200 Jahren, aber alles andere wird zunehmend modernisiert und digitalisiert“, sagt Werkstattleiter Martin Schweizer. Nachdem Jordi Arau-Schweizer dem Betrieb fast 40 Jahre lang mit Hunderten von neuen Zinnfiguren ein frisches Profil verliehen hatte, ist – nach dessen plötzlichen Tod im Jahr 2020 – nun ein junges Team auf dem Weg, dem traditionellen Kunsthandwerk zu neuem Glanz zu verhelfen.

Eine geheime Kunst

Früher gab es in Dießen etliche Zinngießereien. Jeder Betrieb, so erzählt es Martin Schweizer, schwärzte damals seine Fenster, damit der Konkurrent nicht sehen konnte, welche Legierung, welche Werkzeuge benutzt wurden. Das Zinngießen war eine Art Geheimwissenschaft, deren Kunst über Erfolg oder Misserfolg entschied. Von den vielen Zinngießereien in Dießen haben es zwei geschafft, mit ihrer Spezialisierung auf handgefertigte Unikate auf dem globalen Markt zu bestehen. Heute ist der Beruf des Zinngießers so gut wie ausgestorben. Das Wissen und die hohe Kunst der filigranen Zinngießerei wird nur noch innerhalb des Betriebes weitergegeben.

Das Gießen ist eine komplexe Handwerkskunst. Wenn nicht alles stimmt, inklusive der persönlichen Tagesverfassung der Gießerin, kann der Engel in seinem Winterwald (rechts) gleich wieder eingeschmolzen werden.

Text: Silke-Katinka Feltes | Fotos: Sabine Jakobs

Hammer | Hobel | Hände

Wenn Engel reisen

Jedes Jahr zu Weihnachten gehen hunderte Engel auf die Reise. Sie fliegen in die USA, nach Japan und in die Schweiz. Viele bleiben natürlich auch in Deutschland und beglücken hier kleine und große Sammler:innen. Alle Engel haben eines gemeinsam: Sie stammen aus Dießen. Genauer gesagt aus der kleinen, traditionsreichen Zinnmanufaktur Wilhelm Schweizer.

In einem fensterlosen, gut verschlossenen Raum lagern auf dem Boden silbrig glänzende Zinnbarren, ein jeder drei Kilo schwer. In den Regalen darüber Schieferplatten, wie dicke Bücher nebeneinander aufgereiht. Sie sind das eigentlich Wertvolle in diesem Raum. In tage-, manchmal wochenlanger Arbeit hat eine Graveurin mithilfe von bis zu zehn unterschiedlichen ‚Sticheln‘ eine feinziselierte Figur aus dem Schiefer herausgeschnitzt, Vorder- und Rückseite unterschiedlich, aber unbedingt passgenau. Das ist wie Miniatur-Bildhauerei, nur negativ gesehen, denn die Platte wird später geschlossen und mit einer 400 Grad heißen Zinn-Legierung gefüllt.

Das Gießen ist wiederum eine eigene, komplexe Handwerkskunst. Da braucht es jahrelange Erfahrung, Ausdauer und Feingefühl. Nicht umsonst sind die Gießerinnen (es sind überwiegend Frauen) in der Dießener Manufaktur schon seit mehr als 35 Jahren dabei. Was früher ein Ausbildungsberuf war, wird heute nur noch innerhalb des Betriebes weitergegeben. Leon Tropp, Teil des dreiköpfigen Führungsteams: „Man denkt, das flüssige Zinn müsse doch einfach nur in das kleine Loch oben an der Form gegossen werden, aber da spielen so viele unterschiedliche Faktoren eine Rolle, nicht zuletzt die Tagesverfassung der Gießerin.“

Binnen Sekunden erkaltet das Material und der erste Engel ist als Rohling fertig. Zack, zack geht es weiter und eine Figur nach der anderen entsteht. Je nach Gemütslage und Tagesform entstehen so zwischen 20 und 40 Engel pro Stunde. Unser Engel wandert nun einen Arbeitstisch weiter, zu den Frauen mit der Kneifzange. Sie sind die inoffizielle Qualitätskontrolle: Ist alles dran? Nein? Dann zurück zum Einschmelzen. Wenn alles gut ist, „entgraten“ sie den Rohling und glätten die scharfen Kanten. Auch das ist reine Handarbeit. Jetzt noch das Logo der Manufaktur unten aufgeklebt und weiter geht es zu den Maler:innen. Mit feinstem Pinsel und Emaillelack bekommen die Engel nun ihre Seele.

Jeder Engel ist so tatsächlich ein Unikat. Einer, der nun über die Weihnachtsmärkte, den Laden in der Dießener Herrenstraße Nummer 7, die zahlreichen Händler oder über den Internetshop seinen Weg in die Stuben der Menschen findet, auf dass es wieder Weihnachten werde.

Tradition und Moderne

Die erste Zinnfigur in der Familiengeschichte Schweizer wurde 1796 von dem Goldschmied Adam Schweizer gegossen, und zwar mit Gussformen aus Solnhofer Schieferplatten, die vom Bau der Dießener Klosterkirche übriggeblieben waren. Die Wallfahrtsorte von Andechs bis Altötting wurden damals mit Heiligenfiguren, Monstranzen und allerlei Devotionalien beliefert. Im Laufe der Zeit wechselten die Erzeugnisse von religiös zu profan. Auch Teller, Krüge und Zinnknöpfe für Trachten wurden nach und nach von den beliebten filigranen Jahreszeitenfiguren und Szenen aus dem bayerischen Brauchtum abgelöst. Jährlich entwickelt das junge Team rund um die Firmeninhaber Martin Schweizer (34), Leon Tropp (25) und Joan Miquel Arau-Schweizer (25) zwei neue Osterfiguren und fünf neue Weihnachtsmotive. „Wir gießen noch wie vor 200 Jahren, aber alles andere wird zunehmend modernisiert und digitalisiert“, sagt Werkstattleiter Martin Schweizer. Nachdem Jordi Arau-Schweizer dem Betrieb fast 40 Jahre lang mit Hunderten von neuen Zinnfiguren ein frisches Profil verliehen hatte, ist – nach dessen plötzlichen Tod im Jahr 2020 – nun ein junges Team auf dem Weg, dem traditionellen Kunsthandwerk zu neuem Glanz zu verhelfen.

Eine geheime Kunst

Früher gab es in Dießen etliche Zinngießereien. Jeder Betrieb, so erzählt es Martin Schweizer, schwärzte damals seine Fenster, damit der Konkurrent nicht sehen konnte, welche Legierung, welche Werkzeuge benutzt wurden. Das Zinngießen war eine Art Geheimwissenschaft, deren Kunst über Erfolg oder Misserfolg entschied. Von den vielen Zinngießereien in Dießen haben es zwei geschafft, mit ihrer Spezialisierung auf handgefertigte Unikate auf dem globalen Markt zu bestehen. Heute ist der Beruf des Zinngießers so gut wie ausgestorben. Das Wissen und die hohe Kunst der filigranen Zinngießerei wird nur noch innerhalb des Betriebes weitergegeben.

Das Gießen ist eine komplexe Handwerkskunst. Wenn nicht alles stimmt, inklusive der persönlichen Tagesverfassung der Gießerin, kann der Engel in seinem Winterwald (rechts) gleich wieder eingeschmolzen werden.

Text: Silke-Katinka Feltes | Fotos: Sabine Jakobs

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