See.Not.Rettung.
Die Mission: Flüchtende vor dem Ertrinken retten. Das Scheitern: Das Schiff darf nicht auslaufen. Wie ein junger Landsberger Dokumentarfilmer über ein Jahr lang Claus-Peter Reisch und seine Crew von der „Mission Lifeline“ begleitet. Ein Film über das Warten und die Absurdität europäischer Migrationspolitik.
Claus-Peter Reisch
Lennart Hüper
Flüchtlinge? Schwieriges Thema. Wir lesen in der Zeitung von Menschen, die im Mittelmeer ertrinken und bleiben seltsam unberührt. Wir sehen im Fernsehen eine dramatische Rettungsaktion und würden am liebsten sofort spenden. Nicht nur Medien spielen ziemlich geschickt auf der Klaviatur der Empathie und Solidarität auf der einen und der Angst auf der anderen Seite.
Im besten Fall gelingt es im Rahmen einer journalistischen Reportage oder eines Dokumentarfilms, einen kurzen Einblick in das Leben fremder Schicksale zu bekommen. Mainstream-Sehgewohnheiten erfordern dabei oft eine gewisse Dramaturgie, um die Aufmerksamkeit zu fesseln. Schlägt das Pendel zu sehr in die eine Richtung, landen wir oft bei unzulässigen, weil verfälschenden Verkürzungen à la BILD. Oder eben bei emotionslosen Nachrichtensendungen. Ein weitgehend authentischer Blick ist also ein schwieriges Unterfangen.
Einem, dem dieser Blick gelungen ist, ist der junge Dokumentarfilmer Lennart Hüper. Im Sommer 2018 traf er Claus-Peter Reisch, den ehemaligen Kapitän der „Lifeline“, ebenfalls ein Landsberger. Die „Lifeline“ ist das zivile Seenotrettungsboot, das im Hafen von Malta beschlagnahmt wurde und festliegt, während der Kapitän sich – nachdem er 450 Geflüchtete aus Seenot gerettet hat – vor Gericht verantworten muss.
Zur Erinnerung: Im Herbst 2014 wurde die italienische Seenotrettungsaktion „mare nostrum“ eingestellt. Seitdem gibt es staatlicherseits lediglich Operationen zur Sicherung der EU-Außengrenze. Die Seenotrettung liegt damit weitgehend in privater Hand.
Lennart Hüper: „Als 2018 das UNHCR die neue Statistik der im Mittelmeer ertrunkenen Menschen veröffentlichte, fand diese, so erschreckend sie ist, kaum noch Beachtung. Zur gleichen Zeit sah ich im LT die Schlagzeile „Landsberger Seenotrettungskapitän vor Gericht“. Ich fragte mich, warum eigentlich immer noch Menschen in dem Meer ertrinken, an dem wir Urlaub machen, und wie eigentlich der Landsberger Kapitän dazu kommt, in Malta vor Gericht zu stehen, weil er Menschen vor dem Ertrinken gerettet hat. Was ich herausfand, war absurd und fiel mir anfangs schwer zu glauben. Ich dachte, dass dieses Unrecht nicht lange anhalten wird, doch fast drei Jahre später gibt es immer noch nichts Neues.“
„Nichts Neues“, das ist auch der Titel seines Filmes, der im Januar dieses Jahres auf dem Max-Ophüls-Filmfestival Premiere feierte. Ein Film, der anders geplant war. Denn: Niemand konnte absehen, dass die „Lifeline“ derart lange im Hafen festliegen würde. Über ein Jahr lang reiste der 26-jährige Landsberger auf eigene Kosten immer wieder nach Malta, besuchte und filmte die Crew. Das Warten. Den Alltag. Das Hoffen auf ein schnelles Urteil. Die Hilflosigkeit und den Drang wieder rauszufahren, während nur wenige Seemeilen entfernt Menschen auf ihrem Weg nach Europa ertrinken. Denn: Lediglich über den Ticker erfährt man immer wieder von überfüllten Schlauchbooten in Seenot.
Lennart Hüper
www.lennarthueper.de
In ruhigen Bildern, denen jedes Effektheischen fremd ist, begleitet Hüper die Menschen an Bord und Claus-Peter Reisch auf seine Vorträge. Er beobachtet lediglich und es gelingt ihm dadurch, die Stimmung umso intensiver rüberzubringen. Obwohl keine dramatische Rettungsaktion zu sehen ist, berührt der Film und lässt einen betroffen von der Ungerechtigkeit und der Absurdität der Situation zurück.
Noch mal Lennart Hüper: „Ich bin hier in Landsberg in einer ziemlichen Blase aufgewachsen, in der man die Probleme der Welt sehr gut ausblenden kann. Um zu verstehen, wie unsere Gesellschaft funktioniert, und herauszufinden, warum es uns so egal ist, was mit vielen Menschen passiert, studiere ich derzeit Soziologie. Denn aus unserer ehemaligen ‚Willkommenskultur‘ ist mittlerweile leider eine ‚Abschottungskultur‘ geworden.“
Lennart Hüper, 26, Dokumentarfilmer
Geboren in Landsberg, aufgewachsen am Englischen Garten und in der Schwaighofsiedlung. Abitur in St. Ottilien, danach Ausbildung an der Fachhochschule „Film und Sound“ in Dortmund.
Aktuell studiert er Soziologie in Wien und arbeitet als Kameramann und Regisseur. Der Film „Nichts Neues“ läuft in ausgewählten Kinos. Für den Film wurden 100 Stunden Filmmaterial über ein Jahr lang geschnitten. Erst im Januar 2020 wurde Kapitän Reisch freigesprochen.
Text: Silke-Katinka Feltes | Fotos: Lennart Hüper; Thorsten Jordan